2017

Goethe-Institut
Vietnam

Über das Abenteuer, das sich in meinem Koffer versteckte und mit nach Vietnam kam

Euphorie, Angst, Neugierde und Zweifel – Leonie erlebt ihr bis dato größtes Abenteuer: ein Jahr mit kulturweit in Vietnam.

Leonie und eine andere Freiwillige im Schlafwagen eines Zuges Mopedfahrer*innen in Saigon bei Nacht Bild eines Stadtviertels in Saigon

Es klingelt Sturm. Vor der Tür steht das Abenteuer, auf seinem Rücken ein Rucksack, in seiner Hand ein Reiseführer. "Saigon" prangt darauf. Später wird es sich ärgern ihn mitgenommen zu haben, die Informationen darin sind lauwarm, die meiner Kolleg*innen viel besser.

"Hereinspaziert!", rufe ich glücklich.

Ja, auf so ein Abenteuer wie dieses habe ich schon lange gehofft. Ich versuche möglichst lässig zu wirken und deute auf den Flur hinter mir. Das Abenteuer schlüpft an mir vorbei, läuft zielstrebig in mein Schlafzimmer. Kurz darauf höre ich, wie etwas über den Boden geschleift wird. Verwundert folge ich dem Abenteuer, es zerrt gerade meinen Koffer unter dem Bett hervor. Da klingelt es wieder. Als ich die Tür aufmache, springt davor ein kleines Mädchen auf und ab. "Und wer bist du?", frage ich neugierig. "Die Vorfreude!", japst das Mädchen und drängelt sich an mir vorbei in die Wohnung. Hinter ihm sehe ich bereits eine Schlange weiterer Gäste, ich stöhne, die passen doch gar nicht alle in meine Wohnung. "Wer hat die nur alle eingeladen?", rufe ich ins Schlafzimmer, ich habe das Abenteuer im Verdacht.

Unter ihnen erkenne ich ein paar vertraute Gesichter: Euphorie, Angst, Neugierde, Zweifel, Motivation, Verpflichtung, Freiheit. "Fühlt euch wie Zuhause," seufze ich und gebe den Weg frei. Der Reihe nach treten sie alle ein. Es sind viele, sehr viele Gäste, zählen kann ich sie nicht. Ein Mädchen hat Tränen in den Augen. "Was ist denn mit dir passiert?", frage ich sie erschrocken. "Ach,", schluchzt sie, „ich vermisse nur meinen Freund so sehr. Manchmal spürt man die Abwesenheit von Jemandem eben genauso stark wie seine Präsenz." "Ah!", rufe ich. Mir ist sofort klar, wer das ist. "Du musst Sehnsucht sein!". Sie nickt schuldbewusst.

Wir stehen eine Weile alle unschlüssig im Flur herum. "Ich bin im Wohnzimmer!", hören wir da das Abenteuer und wollen plötzlich auch alle im Wohnzimmer sein, aber eigentlich ist uns der Ort egal. Hauptsache es ist dort, wo das Abenteuer ist. Dann sitzen wir auf der Couch, manche auch auf dem Fußboden, weil so wenig Platz ist. Sie alle schauen mich erwartungsvoll an und ich nehme schließlich den Stift in die Hand und unterschreibe den kulturweit-Vertrag.

"Bist du dir auch sicher?", fragt der Zweifel, das fragt er gerne. "Ja", sage ich und später werde ich mir sicher sein: JA, JA, JA.

Ich werde auf dem Vorbereitungsseminar sitzen und paradoxerweise dort zum ersten und letzten Mal wirkliche Zweifel bekommen, ob ich das Ganze machen soll.

Nicht weil ich Angst habe, sondern weil ich mich plötzlich schuldig fühle, weil ich merke, wie leicht es ist, ins Ausland zu gehen. Ich habe eines der kostbarsten Dinge, ohne je etwas dafür getan zu haben: meinen Deutschen Reisepass.

Was das heißt, werde ich einige Monate später erfahren, als ich die Ablehnung eines Visaantrags einer vietnamesischen Freundin in den Händen halte: Die amerikanische Visastelle sei nicht davon überzeugt, dass meine Freundin genug Gründe habe, wieder nach Vietnam zurückzukehren. Ich werde Ungerechtigkeit begegnen, sie wird mir an jeder Straßenecke Saigons ins Gesicht blicken und Obst oder Zigaretten verkaufen wollen. Ich werde von der Großherzigkeit und Freundlichkeit von Vietnames*innen berauscht einschlafen.

Ich werde lernen, mich selbst zu hinterfragen.

Und ja, so kitschig es klingen mag, die Welt wird ein bisschen enger zusammenrutschen in meinem Kopf. Ich werde mich in den Mopedstrudel Saigons verlieben, egal wie oft mich die Stoßzeit in den Wahnsinn treiben wird. Ich werde ein zweites Zuhause finden, eines, das keine genaue Adresse hat, sondern sich irgendwo im Gefühl, in Vietnam zu sein, fassen lässt. Alle, die nun hier in meinem Wohnzimmer sitzen, werden dabei sein.

"Und jetzt erzähl schon, was wirst du dort genau tun?", die Neugierde rutscht immer näher an mich heran. "Ich werde am Goethe-Institut in Saigon arbeiten,", erzähle ich ihr „und nachmittags werde ich in PASCH-Schulen (Schulen: Partner der Zukunft) als Assistenz den Deutschunterricht begleiten, Konversationsprojekte mit Deutschlehrer*innen durchführen, Phonetik-Übungen mit den Schüler*innen machen und aus meiner deutsch-kulturellen Nähkiste erzählen."

"Samstag findet außerdem ein Deutschclub statt, den ich leiten darf!" "Klingt gut!" Die Vorfreude nickt anerkennend. Was sie nicht weiß, ist, dass sie damit furchtbar Recht hat. Am Goethe-Institut werde ich die Begegnungszone von Deutschlernenden am Institut und einer deutschen Musikband gestalten dürfen, bei den anschließenden Workshops und Konzerten mithelfen können, eine Wanderausstellung an drei PASCH-Schulen betreuen dürfen und vieles Weitere.

Dazwischen werde ich dann auch banale Exceltabellen ausfüllen und mehr korrigieren, als mir Spaß macht, aber heimlich mache ich das nur, damit ich vor meinen Freund*innen auch mal jammern darf.

Ich werde den Deutschclub fast mehr lieben als das Ausgehen am Samstagabend.

Die Euphorie wird Freudensprünge machen, wenn mir dann zum Abschied von den Schüler*innen ein Song geschrieben wird, den mir die Schüler*innen bei unserem letzten Deutschclubtreffen vortragen.

Und nicht nur die Arbeit selbst, auch alles drum herum scheint zu stimmen: das Arbeitsumfeld, das durchgehend von netten, aufmerksamen Kolleg*innen bestimmt ist. Gleichzeitig gibt es Momente, in denen ich innenhalten werde. Mein Leben wird so oft im Kontrast stehen zu einer Vielzahl vietnamesischer Realitäten.

"Und du willst Brücken bauen, weil viele Probleme auf der Welt auch auf das Unverständnis zwischen den Kulturen zurückzuführen sind und Brücken zwischen den Kulturen den Zusammenhalt als Menschen jenseits von starken Nationalgedanken stärken?", äfft der Zweifel mein Motivationsschreiben an kulturweit nach. "Ja, genau." Trotzig schaue ich ihn an.

Am unmittelbarsten werde ich die Brücken in meinem Kopf spüren,

weil ich plötzlich sensibilisiert sein werde für all diese Regionen in der Welt, in denen ein*e Freiwillig*er leben wird, den oder die ich zuvor beim Vorbereitungsseminar kennengelernt habe. Ich werde so viel lernen und erleben, dass am Ende selbst der Zweifel still ist und lieber mit mir am nächsten Morgen breitgrinsend auf dem Mopedtaxi zum Goethe-Institut fährt.

Dort werde ich mich ins Lehrer*innenzimmer setzen, ein paar Arbeitsblätter korrigieren, meinen Laptop aufklappen, um E-Mails aus Hanoi zu beantworten, den Deutschclub vorbereiten und anschließend zur Mittagszeit etwas Reis und Tofu in mich hineinschlingen. Nachdem ich am Nachmittag bei einer PASCH-Schule war, werde ich im viel zu frühen Sonnenuntergang nach Hause fahren und mir wird gar nicht mehr auffallen, dass ich es so nenne: Zuhause.

Abends schlafen dann das Abenteuer und ich Hand in Hand ein, es ist mir schon so vertraut, dass ich rätseln werde, warum es noch bei mir ist. Wahrscheinlich gefällt ihm Vietnam einfach genauso gut wie mir.